Der von Rudolf Hildebrand bearbeitete fünfte Band des Deutschen Wörterbuchs von Jacob und Wilhelm Grimm enthält ein Wort, das die Brüder vermutlich während ihrer Studienzeit in Marburg kennengelernt haben: „KAMPFRASEN, kampfplan, für gerichtliche zweikämpfe“.
Die in Hanau geborenen, am Kasseler Lyceum schulisch gebildeten Brüder Jacob und Wilhelm Grimm schrieben sich 1802 beziehungsweise 1803 an der Landesuniversität Marburg ein, um Rechtswissenschaften zu studieren und sich auf einen Brotberuf vorzubereiten.
In einem Fachwerkhaus in der Wendelgasse 4 fanden sie ihr gemeinsames Quartier. Bekanntlich beendete Jacob seinen Universitätsaufenthalt ohne förmliches Abgangszeugnis, nachdem er in fortgeschrittenen Semestern aus Neigung zur Philologie und zur mittelalterlichen Geschichte 1805 das Jura-Studium abgebrochen und seinem Lehrer Friedrich Carl v. Savigny auf dessen Forschungsreise in Paris praktisch und wissenschaftlich zur Seite gestanden hatte. Wilhelm hingegen wurde im Sommer 1806 in Marburg examiniert und hat ein „günstiges Zeugnis“ erhalten, wie er in einem Bewerbungsschreiben um die Stelle eines Bibliothekssekretärs in Kassel schrieb.
Spielstraße mit martialischem Namen: Das aktuelle Straßenschild
Der Kampfrasen wird den historisch aufgeschlossenen jungen Studenten zuerst bei der Lektüre der „Marburgischen Akademischen Gesetze“ untergekommen sein, der obligaten Disziplinar- und Strafordnung für Marburgs Musensöhne, die 1790 in Kassel und erneut 1796 erschien. So hält die Ordnung etwa im X. Kapitel fest: „Das Schiessen in der Stadt, sowohl als zwischen den Gärten vor der Stadt, wird bey willkührlicher Strafe untersagt: dagegen bleibt die Studenten-Jagd jenseits Gißelberg in Ordnungsmäßigen Zeiten frey, wie auch das Schießen auf dem Kämpfrasen an der Wasserseite, in genugsamer Entfernung von den Gärten.“
Der Kämpfrasen auf einem Festungsplan Marburgs von 1760
Die Universität Marburg unterhielt zwischen 1722 und 1866 im Süden der Stadt, am westlichen Ufer der Lahn zwischen den Dörfern Gisselberg und Fronhausen, eine privilegierte Studenten-Jagd, die den Studierenden die Jagd auf Niederwild (Rebhühner, Rehe, Hasen) erlaubte. Der Kämpfrasen, unmittelbar vor den Toren der Grüner Vorstadt und ebenfalls auf der westlichen Lahnseite gelegen, war im 18. und frühen 19. Jahrhundert zudem ein frequentierter Ort, an dem sich Studenten, versehen mit Hiebdegen oder Schlägern, heimlich zu verabreden pflegten, um ihre durch Gesetze und Verordnungen streng verbotenen Händel mit der Waffe auszutragen. Und natürlich könnten die beiden Studiosi Jacob und Wilhelm auf Spaziergängen am Grün und durch das Grüner Tor einem Weg gefolgt sein, der sie quer über den Kämpfrasen und durch weitläufige Gartenanlagen Richtung Süden zum Fuhrmannsgasthof „Schützenpfuhl“ geführt hat, dem im Lied besungenen „Wirtshaus an der Lahn“, und weiter zu einer Lahnfurt, über die sie das dörfliche Umland im Südosten der Stadt erreichten. Der Weg wurde von 1809 an zur Frankfurter Straße ausgebaut.
Jacob Grimm hat in den „Deutschen Rechtsalterthümern“ den Marburger Kämpfrasen einbezogen. Er zählt den Ort zu den Stätten, an denen man sich im frühen Mittelalter auf Auen oder Wiesen zu Gericht einfand, und zitiert eine Urkunde von anno 1284 über ein solches Gericht des Marburger Landgrafen Heinrich I.: „loco seu planitie (planicie) nostri judicii (prope Marburg, hodie auf dem kampfrasen)“.
Die Ortsbezeichnung Kämpfrasen – mit Umlaut, zum mittelhochdeutschen Verb kempfen – wird in einem Salbuch von 1374 erstmals greifbar, einem Güterverzeichnis: „Item Heintze Hoenberg g) 2 Schilling phennygevon eyme gartin by dem Kempwasen“. Anno 1454 hatten wohl zu einer Musterung die „burgemeistere“ – das waren die Vorsteher von Stadt- oder Dorfgemeinden – „vaste volgks“, also viel Kriegsvolk „uff dem kempwasen“ gehabt, und 1519 heißt es anlässlich einer Inspektion der Landesmiliz und ihrer Ausrüstung in Marburg: „uf sontag fur mittfasten“ – gemeint ist der Sonntag vor Sonntag Laetare – „hat der stathelter aber ein musterung ufm kempwasen gehalten“. Hier sind jeweils noch dialektal unverschobenes p und die alte Form Wasen für den ‚Rasenplatz’ erhalten, ein im Oberdeutschen und Westmitteldeutschen verbreitet anzutreffendes Dialektwort, das später – mit Dr. Martin Luther – durch den gleichbedeutenden, hochdeutschen Ausdruck „Rasen“ ersetzt wurde.
Mehr als zwei Jahrhunderte danach bietet eine Quelle von 1769 neben dem Beleg zugleich eine Interpretation für Kämpfrasen: Dieser zufolge liegt „bey Marburg ein ebener Platz, worauf ehedem die herren landgrafen gericht gehalten haben ... dieser platz heißt noch gegenwartig der k ä m p f r a s e n, vielleicht weil die partheyen ... vor des landgrafen höchstem dingstuhl allda kämpfen mußten“; der „Dingstuhl“ bezeichnet das Obergericht.
Ein solcher Austragungsort für gerichtliche Zweikämpfe ist für andere Städte ebenfalls nachgewiesen. Die Zweikämpfe dienten der Erbringung des Beweises in einem Rechtsstreit und mussten vor dem Landgrafen selbst stattfinden; der Besiegte wurde für schuldig gehalten. 1376 fand das höchste landgräfliche Gericht Platz „of dem Heyne“, also auf dem Hain, einem Ort im Norden unterhalb des Marburger Landgrafenschlosses. Das Marburger Stadtgericht tagte noch 1444 gleichfalls im Freien: „uff den kompff“, beim Marktbrunnen.
Der Marburger Kämpfrasen sollte die Aura des Martialischen über die Jahrhunderte bewahren, nachdem er zwischenzeitlich auch als Gerichtsstätte bei Verbrennungen benutzt worden war. Ab 1869 diente die beliebte Kampfstatt der Studierenden als Exerzierplatz für das kurhessische Jäger-Bataillon Nr. 11, das nach der preußischen Übernahme Hessens 1866 in Marburg neu aufgestellt und in direkter Nachbarschaft, in der alten Jäger-Kaserne untergebracht worden war. Ein von der Elwert`schen Buchhandlung 1889 herausgegebener Stadtplan weist auf der dem Kupfergraben zugewandten Seite des Kämpfrasens ein „Exercierhaus“ aus.
Umfangreiche Kasernenbauten wurden um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf dem Areal links und rechts der den Kämpfrasen teilenden Frankfurter Straße errichtet, später wieder in den 1930er Jahren. Auf dem Kämpfrasen endete am 10. Mai 1933 ein von der Nationalsozialistischen Deutschen Studentenschaft initiierter Fackelzug mit anschließender Verbrennung sogenannter „undeutscher Schriften“. Der Studentenmob übergab den Flammen damals die Werke Bert Brechts, August Bebels, Thomas und Heinrich Manns, Ernest Hemingways, Maxim Gorkis, Jaroslav Haseks und vieler anderer Größen des deutschen und internationalen Geisteslebens.
In den 1990er Jahren wurde das über Jahrzehnte zuletzt von der Bundeswehr genutzte Kasernengelände samt Gebäuden auf dem Kämpfrasen aufgegeben. Marburg hatte als Garnisonsstadt ausgedient. Die Liegenschaften wurden für Wohn- und Gewerbezwecke umgestaltet. Eine Spielstraße (!) am Rande der Frankfurter Straße erinnert noch mit dem alten Namen Kämpfrasen an die geschichtsträchtige Vergangenheit – und damit ein wenig auch an jene beiden Studenten der Marburger Universität, die den historischen Gerichtsplatz lexikographisch konserviert haben.
1) 200 Jahre „Kinder und Hausmärchen“ der Brüder Grimm.
© Dr. Norbert Nail (aus: Marburger UniJournal Nr.38, Mai 2012, Seite 34-35 – korrigierte Fassung 2020).