Biergenuss in der Kneipe macht für gewöhnlich hungrig. Gefragt sind Kleinigkeiten, die den Magen nicht nachhaltig beschweren: Soleier, Frikadellen, Würstchen ... und natürlich Bodenständiges, in Köln und Düsseldorf zum Beispiel der Halve Hahn. Dieses Gericht, der unkundige Gast erfährts auf Nachfrage, ist zur Gänze fleischlos. Serviert wird Käse eine dicke Scheibe alter Gouda die Kölner, schrumpeliger „Mainzer“ die Düsseldorfer Variante. Dazu gibts ein dunkles Brötchen, ein Stück Butter und etwas Senf, zuweilen noch saure Gurke oder Zwiebelringe.
Wie der rheinische Appetithappen zu seinem Namen kam, ist ungeklärt. Heinrich Carl Ständers „Kleines Wörterbuch der Düsseldorfer Mundart“ (2. Auflage, Düsseldorf, 1977, S. 31) kennt Halwe Hahn als Röggelche mit Mainzer Käse. Adam Wrede („Neuer Kölnischer Sprachschatz“, Band I, Köln, 1956, S. 323) fabuliert, wenn er schreibt, die Bezeichnung verdanke „ihren Ursprung der humorvollen Täuschung, die ein kölscher Jrielächer [Spötter] im 19. Jahrhundert an seinen Freunden in fröhlicher Runde in einer kölschen Weetschaff [Wirtschaft] beging, als er jedem einen knusprig gebratenen halben Hahn zu spendieren verhieß, aber nach Verständigung mit dem Köbes [< Jakob], dem Zapfburschen, je ein Röggelche met Kies [Roggenbrötchen mit Käse] den erwartungsvollen, Genüsse erhoffenden Freunden, auftischen ließ.“ Die Deutung schwappte Zufall? auf der „Fresswelle“ der 1950er Jahre heran, als Hendl aus dem „Wienerwald“ die Imbisskultur der westdeutschen Bundesrepublik veränderten und jenes auf Portion getrimmte Mastgeflügel, Broiler im Jargon genannt, Einzug in die deutsche Gastronomie hielt. Für das 19. Jahrhundert ist solch ein „Heißhunger“ auf Hähnchen allenfalls in Wilhelm Buschs Bubengeschichte „Max und Moritz“ auszumachen, wo den beiden Helden bei ihrem zweiten Streich das gebratene Federvieh der Witwe Bolte im Halse steckengeblieben war.
„Halver Hahn“ aus Köln (Archiv-Foto)
Andererseits kennt das „Rheinische Wörterbuch“ von Josef Müller (Band 1, Bonn 1928, Sp. 1038; Band 3, Berlin 1935, Sp. 988) bereits die scherzhafte Bezeichnung Hinkelskäs für stark gebrühten Weichkäse; die Bezeichnung wird auch in übertragener Bedeutung gebraucht, wenn jemand fröstelt: der hat Hinkelskäse die schuppige Haut des Huhns, des Hinkels, ist hier Namensgeber für einen Käse mit einer ebenso schuppigen Oberfläche. Standardsprachlich wäre die Situation wohl mit er hat Gänsehaut zu umschreiben.
Die oben zitierte Scherz-Geschichte Adam Wredes zum Halve Hahn findet heutzutage via Internet vielfältige Vertiefung und gläubige Anhänger. Man kennt den Urheber der Täuschung und das (Kölner!) Lokal gar mit Namen, weiß die Zahl der hereingelegten Gäste und das Jahr der „Tat“ zu benennen freilich ohne zeitnah und seriös auf Quellenbelege auszugreifen, ausgreifen zu können. Andere Deutungen setzen unmittelbar bei der Sprache an, erklären halve als halbes Röggelchen oder als halbe (statt einer ganzen) Käse-Portion, die man ha(h)n, das heißt haben, wollte. Auch ein Bezug zum (Zapf-)Hahn wird erwogen. So oder so allesamt sind es doch merkwürdige und letztlich unbefriedigende Erklärungen, die man dem rheinischen Leckerbissen unterzulegen versucht. Zweifel sind angebracht.
„Halver Hahn“ aus Düsseldorf (Archiv-Foto)
Ein kulinarischer Blick nach Thüringen und Sachsen könnte andererseits für das Verständnis von Halve Hahn ganz aufschlussreich sein. In der Universitätsstadt Jena pries im ausgehenden 19. Jahrhundert der schrullige Wirt des Berggasthofes „Wilhelmshöhe“ auf seiner Speisekarte „Truthahn ohne Zahnstocher“ an, nämlich Thüringer Stangenkäse mit Brot und Butter, ein Billiggericht. Die Bezeichnung Truthahn geht vermutlich auf Form und Oberfläche des Käses zurück, die einen Vergleich mit dem knotigen, zerfurchten Hautlappen am Hals eines Truthahns nahelegte. Die ungewöhnliche Truthahn-Speise findet Erwähnung in der Regionalliteratur („Das alte Jena in seinen berühmten Originalen“, Jena, 2006, S. 74 ff.) und im Studentenroman (Paul Grabein: „Du mein Jena“, Berlin, 1929, S. 39). Adolf Stiers „O jerum - - - Heitere Erinnerungen eines alten Jenenser Studenten“ (2. Auflage, Gotha, 1937, S. 27 1. Auflage 1907) zitiert „Jenenser Sprachgebrauch“, wonach unter „Truthahn“ ein „halber Kuhkäse mit Butter und Brot“ zu verstehen sei, und auch das „Thüringische Wörterbuch“ (Band VI, Berlin, 1983 ff., S. 285) enthält für Jena einen entsprechenden Eintrag: „Butterbrot mit Stangenkäse“. Im Schwange war in dieser Ecke Thüringens zudem die Bezeichnung falscher Truthahn.
In Sachsen war besagte Truthahn-„Spezialität“ ebenfalls bekannt, wie in Karl Albrechts Abhandlung „Die Leipziger Mundart“ (Leipzig, 1881, S. 225) nachzulesen ist: „Truthahn, scherzweise f. Butterbrod und deutscher Käse“. Der Hinweis auf „deutschen Käse“, also auf ein Sauermilchprodukt (Handkäs im Hessischen, Harzer in Norddeutschland, Mainzer im Rheinland verdauungsfördernd zumeist in Kümmelkörner getaucht), stützt einmal mehr den Truthahn-Vergleich. Reinhard Lämmels modernes Kochbuch „Original Sächsisch. The Best of Saxon Food“ (Weil der Stadt, 2007, S. 30) bietet als Besonderheit Sächsischen Truthahn: „Das ist eine Scherzbezeichnung für Stangenkäse, einen Sauermilchkäse [...], mit Butter, Brot und Kümmelschnaps.“ Lämmels Serviervorschlag lautet: „Die Brotscheiben mit der Butter, dann mit Senf bestreichen und den in Scheiben geschnittenen Käse auflegen, darüber [...] Zwiebelscheiben geben. Alles mit gehackten Eiern und Schnittlauch bestreuen und mit Kopfsalatblättern, Gewürzgurkenfächern und Radieschen garnieren. Dazu reicht man Kümmelschnaps, der auf jeden Fall der Verdauung zuträglich ist.“ Den Truthahn hat es im übrigen bis in die Schweiz verschlagen. Unter Soldaten heißt der Käse dort Truthahn ohni Zahstocher (Fritz Herdi: „Heiteres aus feldgrauem Dienst“, Frauenfeld 1985, S. 161).
Zurück im Rheinland erscheint es nun nicht mehr abwegig, Hahn als „Volksmund“ zu deuten wie in Thüringen und Sachsen: Käse = Truthahn; aus den in Teilen des Rheinlandes belegten Hinkelskäs wird dann Hahn! Für das Halve finden sich gleich zwei Erklärungen. In Fritz Hönigs „Wörterbuch der Kölner Mundart“ (Köln, 1905/1952, S. 92) entdeckt man n Halv, „ein halbes Gläschen Schnaps, wie es allgemein in den Kölner Branntweinschenken verabreicht wird“. Bei trunkener Betrachtung, grammatisch vereint zu einem Ausdruck, wäre Halve Hahn wohl nichts anderes als eine preiswerte Bestellung auf Schnaps und Käse, vorzugsweise „deutschen“ Sauermilchkäse und einen Klaren, etwa Kümmel. Der in rheinischen Wirtschaften gestrichene „Bekömmlichkeitstrunk“ lässt den Käse (nicht namenrelevante Beilagen beiseitegelassen) aber „trocken“ daherkommen, schürt den Durst und die Spekulation um die Bezeichnung.
Bei nüchterner Betrachtung ist der Halve Hahn eher ein „halber Käse“ und mitnichten dem falschen Hahn gleichzusetzen. Letzteren hatte es zur Zeit des 1. Weltkrieges tatsächlich einmal gegeben, wie ein Soldat in sein Tagebuch eintrug: „Die Büchsenwurst war eine Art falscher Hahn, die man gleich aufessen mußte, da sie sich nicht bis zum anderen Tage hielt.“ (https://www.dhm.de/lemo/zeitzeugen/franz-hallpap-erinnerungen-an-den-ersten-weltkrieg.html).
„Unechte“ Gerichte sind der deutschen Küche nicht unbekannt, beispielsweise der falsche Hase Hackbraten oder die falsche Lende Schulterfilet vom Rind; vom falschen Truthahn war zuvor schon die Rede. Der Halve Hahn blieb gastronomisch der Köln-Düsseldorfer Region eng verbunden mit nach wie vor hintergründigem (Sprach-)Sinn, denn aus dereinst dem halben „Käse“ ist längst ja eine ganzes Gericht geworden. © Dr. Norbert Nail (Marburg), März 2011.