Katja Hoyers kontrovers diskutierte Geschichtserzählung „Beyond the Wall. East Germany 1949-1990“ (London 2023), deutsch „Diesseits Der Mauer. Eine Neue Geschichte Der DDR 1949-1990.“ Aus dem Englischen von Henning Dedekind und Franka Reinhart. 4. Aufl. Hamburg 2023, kommt nicht umhin, an einigen Stellen in beiden Publikationen direkt auch auf das DDR-Grenzregime einzugehen. 35 Jahre nach Fall der Berliner Mauer und dem Vorliegen einer Fülle zeitgenössischer Berichte und historischer Quellen machen manche Aussagen der in einer Familie mit „DDR-Hintergrund“ sozialisierten Autorin doch einigermaßen fassungslos. So liest man auf Seite 167 der deutschen Ausgabe: „Während die DDR-Behörden eifrig die innerdeutsche Grenze sicherten, waren in Berlin – immer noch eine von den Alliierten gemeinsam verwaltete besetzte Stadt – die Sektorengrenzen offen und konnten frei passiert werden. Es war [bis August 1961] einfach und legal, nach Ostberlin zu reisen, zu Fuß nach Westberlin zu gehen und dann in einen Zug in Richtung BRD zu steigen.“ Diese Darstellung entspricht auch der englischen Fassung, enthält damit in beiden Versionen aber fragwürdige Aussagen.
– Eine gemeinsame Behörde der Alliierten war von 1945-1990 lediglich die Luftsicherheitszentrale Berlin; ansonsten beschränkte sich alliierte Zuständigkeit auf den jeweiligen Besatzungssektor.
– Der übertritt vom Ostsektor in die Westsektoren war nur bedingt frei, sofern man bei Kontrollen in S- und U-Bahn sowie auf der Straße nämlich nicht mit größeren Gepäckstücken auffiel und so schon als potentieller Flüchtling wahrgenommen wurde. Wer überhaupt bei selektiver Überprüfung der Personalpapiere und bei Taschenkontrollen an den Sektorengrenzen als verdächtig „herausgefischt“ wurde, dem blieb in der Regel die Passage in die Westsektoren versagt – mit Konsequenzen für die Zurückgewiesenen, beispielsweise wegen versuchter Republikflucht, nicht genehmigter Ausfuhr von Waren oder nicht erlaubtem Mitführen größerer Geldbeträge der DDR-Währung sistiert zu werden.
– DDR-Flüchtlinge in Westberlin mit Ziel Westdeutschland wurden in Abertausend Fällen aus Berlin-Tempelhof nach Frankfurt, Hannover und Hamburg ausgeflogen. Das Gebiet der DDR konnte man als gewöhnlicher Einwohner dieses Staates bis zum Mauerbau 1961 Richtung Westen (und auf Zeit) nur mit einem am jeweiligen Wohnort ausgestellten „Interzonenpass“ verlassen. Im „Interzonenzug“ von Westberlin etwa nach Bayern wurden Reisende an der Berliner Sektorengrenze zur DDR und an der thüringisch-bayerischen (Zonen-)Grenze kontrolliert. Mehrfach an den Grenzen kontrolliert wurde im Transit auch der internationale Moskau-Paris-Express. In den Zügen waren zudem Angehörige der DDR-Transportpolizei unterwegs, um etwaige Schmuggel- und Fluchtversuche von Reisenden, die auf DDR-Bahnhöfen streckenweise zusteigen konnten, zu unterbinden. Auf Seite 174 der gleichen Buchausgabe werden die unzutreffenden Angaben wiederholt: „Von Westberlin aus nahmen sie [aus der DDR bzw. Ostberlin Geflüchtete] einen Zug nach Westdeutschland. Zehntausende Ostdeutsche taten es ihnen gleich …“.
Über das erste Opfer des Schusswaffengebrauchs an der Berliner Mauer heißt es in der englischen Buchversion auf Seite 184: „On 24 August 1961, at 4 p. m., Günter [Litfin] climbed over the crude wall by the Humboldthafen, perhaps to cross over the bridge there. But guards spotted him. They were transport police officers who had been trained to regulate traffic rather than fire live ammunition at those trying to leave the GDR. They had strict orders to shoot but never received proper firearms training. The two policemen followed protocol, confronting Günter, ordering him to freeze. The young man panicked and ran. The guards fired warning shots. […] he jumped into the water, attemting to swim the 60 metres across. Now the two policemen aimed directly at him and fired several shots, one of which hit Günter in the head and killed him.“
Die deutsche Ausgabe übernimmt terminologisch und inhaltlich die englische Vorlage. Autorin, Übersetzerteam und Verlagslektoren waren sich ganz offensichtlich nicht im Klaren, was die Aufgaben der DDR-Transportpolizei waren. Jedenfalls gehörte zu deren Kernkompetenz nicht die Regelung des Straßenverkehrs; das taten die wegen ihrer weißen Uniformmützen so genannten „weißen Mäuse“ der Volkspolizei. Die Transportpolizei war für die Kontrolle des zur DDR-Reichsbahn gehörenden Schienennetzes einschließlich der Bahnhöfe, der Brücken sowie der Schienenfahrzeuge zuständig. Dies betraf zugleich auch die Befugnis, auf dem von der Reichsbahn unterhaltenen Streckennetz der S-Bahn auf Westberliner Gebiet Streifengänge zu unternehmen. Diebstahl aus Güterwaggons und Sabotage an den Zügen galt es zu verhindern, Sicherheit und Ordnung auf Bahnhöfen und Bahngelände zu gewährleisten. Hinzu kam in Ost-Berlin Grenzsicherung auf dem Bahnkörper und in grenzüberschreitenden Zügen des Stadt- und des Fernverkehrs, überhaupt Kontrolltätigkeit in Zügen des DDR-Personenverkehrs. Auch der Umgang mit Waffen war den Transportpolizisten vertraut und das Schießen mit scharfer Munition Teil der regulären Ausbildung.
Zutreffend hingegen an anderer Stelle im Buch (deutsche Ausgabe S. 396, englische S. 309) ist die Beschreibung von Befindlichkeit der zumeist jungen Grenzsoldaten während des Wachdienstes: Kaum einer unter ihnen, der in der Tat nicht heilfroh war, wenn die Schicht ohne besondere Vorkommnis zu Ende ging, er also nicht schießen oder Verhaftungen vornehmen musste oder wegen eigenen „Versagens“ im Dienst zur Rechenschaft gezogen wurde. Dass es lokal in Grenzkompanien einen Befehl gegeben haben soll, Grenzverletzer möglichst durch Schüsse in die Beine – bei Nacht und Nebel? – an der Flucht zu hindern, ist mehr als fraglich, galt doch in letzter Konsequenz der umfassendere „Kampfauftrag“, Grenzdurchbrüche mit allen Mitteln zu verhindern. Auch ist nicht bekannt, dass beim Schießtraining der Grenzsoldaten die unteren Extremitäten der zu bekämpfenden „Pappkameraden“ als bevorzugter Zielbereich gekennzeichnet waren.
© Dr. Norbert Nail (Marburg, Dezember 2024).
1 Vgl. etwa Jens Gieseke, Rezension zu: Hoyer, Katja: Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949–1990. Hamburg 2023, ISBN 978-3-455-01568-3, in: H-Soz-Kult, 31.08.2023, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-135972 und zahlreiche „Rezensionsnotizen“ im Kulturmagazin „Perlentaucher“ https://www.perlentaucher.de/buch/katja-hoyer/diesseits-der-mauer.html.
2 Auch im Vereinigten Königreich, dem langjährigen Wirkungskreis Katja Hoyers, gibt es mit der British Transport Police eine für den Eisenbahnverkehr zuständige Polizei-Behörde.´Die alte Bundesrepublik Deutschland verfügte ebenfalls über eine Bahnpolizei als Teil der Deutschen Bundesbahn.