Vertraulich
Kampfgruppe Psychologische Kriegsführung [PW Combat Team]
1. US-Armee
VON: T3 [Technical Sergeant] Samson B. Knoll - 3. Mai 1945
GEGENSTAND: Situation in zwei Dörfern nahe Weimar - Nohra und Hopfgarten
VORBEMERKUNG: Die zwei Dörfer NOHRA und HOPFGARTEN, ca. 6 km westlich von WEIMAR gelegen, wurden aufgesucht¹ in dem Bemühen, die Einflüsse der alliierten MG [Militärregierung]² auf kleine Gemeinden zu erkunden. Die zwei Bürgermeister und einige wenige Einwohner dieser Dörfer wurden befragt. Beide Gemeinden liegen noch nahe genug an einem größeren MG-Zentrum, um davon etwas zu profitieren, doch, wie zu sehen sein wird, leiden sie an einem Mangel an Aufsicht und Orientierung.
I. NOHRA: Ein kleines Dorf mit normalerweise wenig über 500 Einwohnern, jetzt angeschwollen auf 654 durch Flüchtlinge aus dem Rheinland und aus Schlesien, eine Landgemeinde, deren einzige nennenswerte Industrie eine große Molkerei ist, welche die Produkte auch vieler umliegenden Gemeinden verarbeitet. Diese Molkerei wurde von einer kleinen Gruppe der SS verteidigt und im folgenden Artilleriebeschuss zerstört. Ansonsten blieb das Dorf, vom Aussehen her, völlig verschont von den Heimsuchungen des Krieges.
Samson B. Knoll 1945 in Weimar (Foto Marburg, fmb27175_02)
1 Samson B. Knoll hatte den Vormarsch der Amerikaner im April 1945 durch Thüringen bis zur Elbe in Sachsen als Propagandist und „Interrogation/Verhör-Officer“ begleitet. In Weimar hielt sich Knoll Ende April/ Anfang Mai mehrere Tage lang auf. Im befreiten Konzentrationslager Buchenwald erlebte er die von den Angehörigen der verschiedenen Nationen gestalteten Feiern zum 1. Mai; vgl. auch Walter Bernsdorff / Martin Vialon: Vom Um-Erzieher zum Freund. Interview mit Samson B. Knoll - Offizier der amerikanischen Militärregierung in Marburg. In: Aufbruch zwischen Mangel und Verweigerung. Marburg in den Nachkriegsjahren 2. Hrsg. v. Benno Hafeneger und Wolfram Schäfer. Marburg 2000 (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur; 68), S. 21-44.
2 Thüringen stand bis 1. Juli 1945 unter amerikanischer Militärverwaltung und wurde danach Teil der sowjetischen Besatzungszone.
(a) VERWALTUNG: Eigentlich der einzige Verwaltungsbeamte ist der Bürgermeister mit Namen GUENTHER. Er ist, mit einer kurzen Unterbrechung, 25 Jahre lang Bürgermeister von Nohra; vor ihm waren sein Vater und Großvater Bürgermeister des Dorfes. Seine Familie hat seit dem 15. Jahrhundert immer dort gelebt. 1927, infolge des Zusammenbruchs, den er in der Inflation erfahren hat, trat er vom Amt zurück, um seinen Bauernhof für sich und seine Kinder zu retten. Wie er meint, seien die Dörfler sehr enttäuscht über seinen Rücktritt gewesen, und als 1933 Hitler die Macht übernahm und ein neuer Bürgermeister ernannt werden musste, hat die Gemeinde ihn quasi gezwungen anzunehmen. Er trat im selben Jahr auch in die Partei ein, aber behauptet, und seine Aussage wird von zwei Bürgern seiner Gemeinde gestützt, im Innersten nie ein richtiger Nazi gewesen zu sein. Als durch die Einberufung, einer nach dem anderen, die verschiedenen Kandidaten für den ORTSGRUPPENLEITER abgezogen wurden, wurde auch ihm das Amt übertragen, das er seit Frühjahr 1944 oder Herbst 1943 innehatte. Er behauptet, keine Versammlungen außer den angeordneten abgehalten, ansonsten sich nicht um die Partei gekümmert zu haben. Vor 1933 votierte er für den LANDBUND, eine Bauernbewegung mit rechtsgerichteten Tendenzen.
Es gab eine kleine Abteilung US-Soldaten im Ort, und ein Leutnant THOMSON fungierte als Ortskommandant. Diese Abteilung ist jetzt abgezogen. Der Leutnant war für GUENTHER sehr nützlich und unterstützte ihn in praktisch allen Angelegenheiten, wenn Hilfe erforderlich wurde. Jetzt findet sich Bürgermeister GUENTHER alleingelassen. Es gibt keine Polizei im Dorf, eine Patrouille kommt von Zeit zu Zeit aus HOPFGARTEN. Während dieser Schreiber [i. e. Knoll] GUENTHER befragte, kamen die zwei Polizisten vorbei, und die Frage der Überwachung des Dorfes wurde zwischen den beiden und dem Bürgermeister erörtert. Er wurde gebeten, sich zweier Namen zu versichern, die als Ortspolizisten eingesetzt werden könnten, vorausgesetzt, sie wären nie in der Partei gewesen - ein Vorbehalt, der offensichtlich das Ergebnis des jüngsten Revirements in WEIMAR ist, unter dessen Obrigkeit die zwei Polizisten ihr Amt ausüben.
Verbreitet bislang durch den Bürgermeister von NOHRA wurden: Die PROKLAMATION Nr. 1 von GENERAL EISENHOWER, das GESETZ Nr. 1: AUFHEBUNG VON NAZI-RECHT, das GESETZ Nr. 5: AUFLÖSUNG DER NAZI-PARTEI, ANORDNUNG Nr. 1: VERBRECHEN UND STRAFTATEN, ANORDNUNG Nr. 3: OFFIZIELLE SPRACHFASSUNGEN und die Ankündigung über die Stunden der Ausgangssperre. ANORDNUNG Nr. 77 (ARBEITSEINSATZ) und Nr. 161 (Grenzkontrolle) lagen im Bürgermeister-Büro vor, waren aber noch nicht weitergegeben.
Der Bürgermeister bekannte, er sei völlig ratlos, was seine tatsächlichen Befugnisse angehe. Er wusste nicht, unter wem er sein Amt ausübte oder wem er verantwortlich war. Er war von keiner übergeordneten Amtsperson angesprochen worden, abgesehen von Leutnant THOMSON hatte er keinerlei Beamte der Militärregierung getroffen. Er wird von allen möglichen Leuten heimgesucht (und allen Arten von Problemen) und wusste nicht, an wen er sich wenden soll. Es scheint, dass es keine Koordinierung von oben gegeben hat, und Bürgermeister GUENTHER ist so ziemlich auf sich selbst gestellt und versucht seine Probleme zu lösen, so gut er kann.
(b) ERNÄHRUNGSLAGE: Im Großen und Ganzen, da dies eine Landgemeinde ist, ist die Ernährungslage bislang ganz zufriedenstellend. Die Felder sind bestellt worden; wenn die Zeit für die Hackarbeiten kommt, ist ein empfindlicher Mangel an Arbeitskraft zu erwarten, was schmerzhafte Folgen haben könnte. Einem der Inhaber eines der zwei Lebensmittelläden am Ort zufolge gibt es aktuell nur einen Engpass bei Fetten, besonders bei Butter. Heute, beispielsweise, hatte sie weder Butter noch Margarine, sondern nur Öl. Dies ist auf die Leere zurückzuführen, die jetzt bei ihrem Großhändler herrscht, dessen Vorräte durch Plünderung oder Luftangriffe dezimiert worden sind. Sie erwartete jedoch, bald Butter hereinzubekommen. Sie gab auch zu, noch einen kleinen Vorrat an Margarine zu haben, den sie für ausgewählte Leute mit vielen Kindern, die es am nötigsten hätten, zurückhielt. Der Mangel an Butter und das partielle Fehlen von Milch sind zum Teil eine Folge der Zerstörung der Molkerei, die jetzt als erstes und wichtigstes Rekonstruktionsvorhaben wiederaufgebaut wird. Die Versorgung des Ladens ist auch beeinträchtigt infolge fehlender Transportmöglichkeit. Der Ladeninhaber, eine Frau, musste sich zu Fuß zu ihrem Händler in Erfurt (12 km entfernt) begeben. Brot war beim örtlichen Bäcker verfügbar, aber heute war sein Mehl aufgebraucht, und es wird versucht, Nachschub zu bekommen.
(c) FREMDARBEITER-PROBLEM: Der Bürgermeister beharrte, dass einer der Gründe, warum das Ernährungsproblem, obwohl im Ganzen noch zufriedenstellend, bald ernst werden wird, die offenbar rücksichtslose Vorgehensweise ist, mit der ausländische Arbeiter und Gefangene, unter ihnen viele aus Buchenwald³, Lebensmittel in Eigeninitiative beschlagnahmen. Es herrscht große Angst besonders vor Russen und Ukrainern aus den nahegelegenen Lagern, die bewaffnet sind und von denen man sagt, sie terrorisierten die Bevölkerung. Sie kommen und verlangen eigenmächtig Eier, Milch, Brot oder sogar Schweine und Kälber. Sie - dem Bürgermeister zufolge - sind der Grund, warum es kein Mehl mehr in der Ortsbäckerei gibt. Während die politischen Häftlinge aus Buchenwald im Großen und Ganzen diszipliniert und gesittet sind und sich bemühen, ihre Lebensmittel auf reguläre Art zu erhalten und diese dann zurück ins Lager schaffen zur allgemeinen Verteilung, gibt es ein Problem mit belgischen Gefangenen aus einem Lager in der Nähe, die einfach tägliche Quoten von soviel Eiern oder Brot oder Milch festlegen und erwarten, dass diese Quoten erfüllt werden. Da die Bauern weiterhin ihre Produkte an die reguläre SAMMELSTELLE abliefern und auf Anweisung der MG (?) dort wieder Quoten erfüllen müssen, bedroht dies ernsthaft ihre Leistungsfähigkeit. Darüber hinaus stehlen eine Anzahl demoralisierter Häftlinge aus Buchenwald (von allen Informanten klar abgegrenzt von den politischen Gefangenen) ebenso wie Ukrainer und Polen aus den Lagern in der Nachbarschaft andauernd Eier und Geflügel bei den Bauern; in einem Fall stahlen und schlachteten sie 21 Hühner. Solche Vorkommnisse können vermutlich in den Nachbargemeinden vervielfacht werden, und während die von den Behörden vorgegebenen Eier-Quoten erfüllt werden müssen, werden gleichzeitig eine große Anzahl von Legehennen getötet; die Situation beim Geflügel wird schnell zu einem der sehr ernst zu nehmenden Probleme dieser ländlichen Region. Der Bürgermeister und andere Einwohner wissen, dass kein Versuch unternommen wird, diese vagabundierenden ausländischen Arbeiter zu überwachen, und fühlen sich der Situation hilflos ausgesetzt. Sogar die beiden Polizisten wussten, dass sie machtlos waren, denn sie hatten keine Waffen, wohingegen in vielen Fällen diese Elemente Revolver trugen. Dieser Schreiber erlebte selbst, wie in kurzer Folge zehn ausländische Arbeiter mit verschiedenen Forderungen auf dem Bauernhof des Bürgermeisters auftauchten. Eine Gruppe von sieben Franzosen verlangte Fahrgelegenheit nach Erfurt, und zwei Polen und ein Russe forderten ein Kalb (der Pole für sein Lager) und Verpflegung (der Russe für seinen Ausflug nach Erfurt). Der Bürgermeister versuchte sich zu helfen, indem er Lebensmittelkarten für einen Tag (die alten deutschen Urlauber-Verpflegungsmarken) aushändigte. Doch in vielen Fällen verlangten seine Besucher mehr als das, und oft bedrohten sie ihn und andere Angehörige der Gemeinde.
3 Das Konzentrationslager Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar wurde am 11. April 1945 durch amerikanische Truppen befreit.
(d) POLITISCHE SITUATION: Fast jeder behauptet, es habe kaum irgendwelche „verbohrten“ Nazis in der Gemeinde gegeben. Die Meisten von ihnen waren beim Militär, und man behauptet, dass keine militanten Nazis zurückgeblieben sind. Dem Bürgermeister zufolge wären unsere Truppen wohl gelitten, ihre Anwesenheit sogar erwünscht. Seit unserer Ankunft fühlen die Menschen, dass ein großer Druck von ihnen genommen ist. Ohne dass der Bürgermeister es so sagt, hat der Wunsch, beschützt zu werden, zweifellos etwas mit unserer „erwünschten“ Anwesenheit zu tun.
Das Dorf ist fast vollständig ohne Nachrichten, abgesehen von den wenigen Radios, die übrigblieben, nachdem unsere Truppen die besten mitgenommen hatten. Die FRANKFURTER PRESSE wurde einmal in wenigen Exemplaren verteilt, und der Bürgermeister selbst besitzt eine Ausgabe der HESSISCHE[N] POST⁴. Ansonsten ist das Dorf von jeglichem Nachrichtenverkehr völlig abgeschnitten. Meldungen über Hitlers Tod (der Inhaberin des Lebensmittelladens zufolge) wurden mit Genugtuung aufgenommen. Der offiziellen Version wurde weitgehend nicht geglaubt; wenn er wirklich in BERLIN war, denken meistens die Menschen, dass er Selbstmord begangen hat. Die Enthüllung der Grausamkeiten von Buchenwald (von den befreiten Gefangenen selbst auf einem Meeting berichtet) erregte einen Sturm der Entrüstung. Wann immer dieses Thema in Gesprächen im Laden berührt wird, werden die Leute wütend und hassen die Schande, die es dem deutschen Volk auferlegt.
Alles in allem hat die Besetzung durch amerikanische Truppen wenig Änderung für NOHRA gebracht, abgesehen von einer partiellen Unsicherheit infolge der oben erwähnten Räubereien. Die Tatsache, dass einmal ein Militärkommandant im Dorf war, ist sein einziger nachprüfbarer Beleg, dass es unter Army-Aufsicht stand. In jeder anderen Hinsicht scheint NOHRA eine einsame Insel in einem Meer der Unsicherheit zu sein, die versucht, das Leben wie gewohnt [„as usual“] fortzuführen.
II. HOPFGARTEN: Ein Dorf, das einmal ungefähr 800 Einwohner hatte, jetzt 1.100 bis 1.200 infolge des Zustroms von Flüchtlingen. Eine Landgemeinde ohne irgendwelche richtige Industrie außer der Eisenbahn mit ihren Arbeitern.
(a) VERWALTUNG: HOPFGARTEN hat nie irgendeinen MG-Offizier gesehen, hat nie irgendeinen Beamten erhalten außer seinen Polizeiwachtmeister, dem das Amt von der WEIMARER Polizei zusammen mit zwei anderen Polizisten übertragen wurde, von denen einer ein Bauer ist, der unter den Nazis zu Hilfspolizeiaufgaben genötigt wurde und darauf brennt, zurück auf seinen Hof zu kommen. Diese drei patrouillieren ein Gebiet, das sich über HOPFGARTEN, NOHRA, ISSERODA, NIEDERZIMMERN und UZBACH [recte: UTZBERG] erstreckt.
Der Bürgermeister ist ein typischer „kleiner Mann“. Er war, vor langer Zeit, ein Briefträger, doch hatte diese Tätigkeit aus Gesundheitsgründen aufgeben müssen. Er wurde danach Schuhmacher. In seinen Jahren, als er politisch aktiv war, so erinnert er sich, hat er zweimal für die Sozialdemokraten votiert, danach längere Zeit für niemanden, zuletzt stimmte er 1932 für die Nazis (geködert von ihren Versprechen). Er trat in die Partei am 1. Mai 1933 ein, wurde 1934 durch die WEIMARER KREISLEITUNG zum Bürgermeister ernannt. Er musste auch die Funktion des ORTSGRUPPENLEITERS übernehmen, aber da er selbst kein Redner war, hat er nie irgendwelche Versammlungen einberufen, außer wenn ein offizieller Nazi-Redner aufgetreten ist. In seinem Dorf war kein VOLKSSTURM aktiv, auch gab es keinerlei Verteidigung. Die wenigen Männer, die zur Bewachung der Brücke zurückblieben (und diese wahrscheinlich sprengten), wurden von den Einwohnern weggejagt, bevor sie größeren Schaden anrichten konnten. Das Dorf wurde „genommen“, als unsere Panzer durch seine Hauptstraße fuhren.
Der Bürgermeister ist der Einzige, der Verwaltungsarbeit leistet. Die drei Polizisten sind in dem großen Gebiet beschäftigt, das sie zu überwachen haben. Als Buchenwald befreit und das Dorf genommen war, kam ein Komitee aus dem Lager in den Ort und berichtete den Dörflern von den Zuständen dort. Nach einer gewissen Erkundung entschieden sie, den Bürgermeister im Amt zu belassen (der zweifelsohne seine offiziellen Pflichten aufrichtig und mit guter Absicht erledigt hatte). Aber seitdem fand er wenig Bereitschaft bei anderen Leuten im Ort, ihn in seiner Arbeit zu unterstützen, weil sie noch Angst haben. Er erhält sehr wenig (und offenbar widerwillig) Hilfe bei einigen seiner Aufgaben vom örtlichen Schullehrer. Er fühlt sich völlig verlassen, ist sich sicher, dass er keine echte Machtbefugnis hat, weil er erkennt, dass er irgendwann von den US-Behörden entweder bestätigt oder doch entlassen werden sollte. Derweil liegt die ganze Last der Verwaltung auf seinen Schultern, und er klagt verbittert, dass er bald nicht mehr wisse, an wen er sich wenden oder was er tun soll. „Wenn die Dinge weiterlaufen wie bisher, werde ich einen Nervenzusammenbruch bekommen, denn ich kann das nicht viel länger durchstehen.“
4 Die FRANKFURTER PRESSE war ein Nachrichtenblatt der amerikanischen 12. Heeresgruppe, verbreitet zwischen dem 21. April und dem 26. Juli 1945. Die erste Nummer der HESSISCHE POST, ebenfalls ein Produkt dieser Heeresgruppe für die deutsche Zivilbevölkerung, erschien am 28. April 1945 in Kassel und wurde im Folgenden für das besetzte Thüringen das deutschsprachige Presseorgan der amerikanischen Militärregierung. Die HESSISCHE POST erschien im amerikanisch verwalteten Kassel noch bis September 1945.
(b) DIE ALLGEMEINE SITUATION: Diese ist im Großen und Ganzen sehr ähnlich derjenigen von NOHRA. Lebensmittel, bis jetzt, gibt es ausreichend. Das Arbeitsproblem wird es künftig schwerer machen. Und erneut richtet das Plündern und rücksichtslose „Requirieren“ durch ausländische Arbeiter und Insassen aus Buchenwald großen Schaden an und dezimiert schnell die vorhandenen Nahrungsvorräte. Der Bürgermeister von HOPFGARTEN machte ebenso wie der Bürgermeister von NOHRA eine Unterscheidung zwischen den echten politischen Gefangenen aus Buchenwald und den demoralisierten Elementen, meistens Ukrainer. Sie hatten wenig Ärger mit den Ersteren, die gutgläubig auf Lebensmitteltouren gingen, doch die Letzteren stahlen und bedrohten. Von den politischen Häftlingen hatten die Leute erfahren, dass die Ernährungssituation jetzt in Buchenwald gar nicht schlecht war. Aber die Elemente, die durch den Ort vagabundierten, scherten sich nicht darum; tatsächlich kehrten viele nicht nach Buchenwald zurück, kampierten einfach in Scheunen und Ställen und ernährten sich zu Lasten der lokalen Bevölkerung. Die Bauern kamen für gewöhnlich ihren Forderungen nach, denn sie hatten Angst, und was diese Leute fordern, liegt weit über der für die Bevölkerung festgesetzten Tagesnorm. Es gibt keinen Versuch seitens irgendeiner offiziellen Behörde, diese Forderungen einzudämmen. In Eigeninitiative hat der Bürgermeister individuelle Essenskarten ausgegeben, die er diesen zufälligen „Besuchern“ aushändigt in der Hoffnung, dass sie später von irgendeiner Dienststelle eingelöst werden. Zu verzeichnen waren Diebstahl von Geflügel und von Rindern, Schlachten von Schweinen, Plündern von Wohnungen. Dieses Plündern ist nicht auf ausländische Arbeiter beschränkt, sondern wurde auch von unseren Truppen verübt. Jüngster Fall ist der von zwei amerikanischen Soldaten, die in mehrere Wohnungen einbrachen, einer mit einer Pistole, der andere trug eine Reitpeitsche, und die jedes Stück Tafelsilber und Schmuck wegschleppten, den sie in die Hände bekamen. Sie verschwanden in Richtung NIEDERZIMMERN. Während dieser Schreiber gerade mit dem Bürgermeister sprach, brachen zwei amerikanische Soldaten, begleitet von zwei Mädchen, in die Bahnstation ein, erbrachen deren große Erste-Hilfe-Kiste und stahlen jedes Teil der chirurgischen Gerätschaften. Der alte Stationsbeamte wurde von einem der Soldaten bedroht und daran gehindert, in den Bahnhof zu kommen oder wegzulaufen, bevor diese Männer fertig waren, um sich dann davonzumachen. Sie entschwanden in Richtung UZBACH [UTZBERG]. Es herrscht in diesem Dorf ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit und Hilflosigkeit, das besonders seinen kleinen Bürgermeister bedrückt.
(c) POLITISCHE SITUATION: Nach dem Vortrag der politischen Häftlinge aus Buchenwald wurde ein „antifaschistischer“ Ausschuss von zehn Leuten gebildet, zu dem der Bürgermeister als Leiter der Dorfverwaltung gehörte und dessen Vertrauter ein Schneider namens FOIZICK war. Zugehörig waren drei Bauern, ein Elektriker, ein Schmied und auch der ehemalige ORTSBAUERNFÜHRER. Sie sollten darauf schauen, dass das normale Leben in HOPFGARTEN weiterging. Das BUCHENWALD-KOMITEE⁵ ist die einzige Instanz, die der Bürgermeister von HOPFGARTEN überhaupt gesehen hat, und er glaubt natürlich nicht, dass dieses faktisch seine vorgesetzte Dienststelle sein könnte. Jeder würde ein wenig Besatzungsmacht begrüßen, sogar einen einzelnen Wachmann, um sie zu beruhigen. Der einzige Kontakt, den der Bürgermeister nach WEIMAR unterhält, erfolgt über den WACHTMEISTER der Polizei, aber sogar durch ihn bekommt er keinerlei Anweisung. Den einzige Aushang, den er je zurückbrachte, war der alte „Plünderer werden erschossen“ in mehreren Sprachen, noch von der Nazi-Verwaltung ausgestellt.
5 Nach der Befreiung des Konzentrationslagers zunächst gebildeter Ausschuss zur Selbstorganisation der einstigen Häftlinge unter Führung der politischen Gefangenen.
Die Leute in HOPFGARTEN waren gemäß dem Bürgermeister jedenfalls nicht besonders Nazi und sagen jetzt wirklich nichts mehr in dieser Richtung. Die Geschichte von BUCHENWALD wühlte jeden auf, und die Meinung darüber war, wenn Hitler davon wusste, war er ein sadistischer Wahnsinniger. Meistens jedoch tendierten die Leute dazu, Himmler die Schuld zu geben. Niemand kann verstehen, warum der Krieg noch weitergeht.⁶ Der Bürgermeister erfuhr gerade heute von Hitlers Tod. Sein eigenes Radio ist kaputt, und es gab seit der Besetzung keinerlei Zeitung im Dorf. Seine Bemerkung über Hitlers Tod: „Die Leute sprechen davon ohne Bedauern.“
III. SCHLUSSFOLGERUNG: Größte Schwäche bei der Verwaltung dieser kleinen Landgemeinden ist ihre fast vollständige Abschottung von irgendeinem MG-Zentrum. Es ist anscheinend kein System einer regulären Kommunikation aufgebaut worden; faktisch wusste keiner der beiden Bürgermeister, wer seine Aufsichtsbehörden waren. Dies erschwert nicht nur die örtliche Verwaltung, sondern birgt den Keim der Unsicherheit, denn unsere eigenen Organe haben in diesem Fall keine Mittel zu erfahren, was vor sich geht. Während diese beiden Bürgermeister in Ordnung zu sein scheinen, besteht doch eine Gefahr, zwei Männer im Amt zu belassen, die von den Nazis eingesetzt wurden. Keiner von beiden ist einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen worden. Es fehlt die regelmäßige Überwachung des Gebietes, und viele amtlichen Aufgaben werden einfach nicht ausgeführt.
Von nahezu gleicher Dringlichkeit ist die Überwachung der vagabundierenden ausländischen Arbeiter. Es scheint, dass das eigentliche BUCHENWALD-Komitee diszipliniert arbeitet, doch eine Anzahl demoralisierter BUCHENWALD-Häftlinge ebenso wie Bewohner der vielen kleinen Lager für ausländische Arbeiter in der Nachbarschaft ernähren sich zu Lasten der lokalen Bevölkerung durch ein gewisses Maß an Einschüchterung. Es sollten Mittel gefunden werden, diese Gruppen zu organisieren, so dass sie versorgt werden können, damit sie nicht einfach diverse Nahrungsmittel der Bevölkerung stehlen und tatsächlich die Produktion beispielsweise von Eiern gefährden durch wahlloses Stehlen und Schlachten von Legehennen, Enten und anderem Geflügel. Um eine Evakuierung abzuwenden, muss diesen Leuten klargemacht werden, dass sie nur ernährt werden können entsprechend der Norm, die für alle anderen Bürger gilt; dass eine Gemeinde ihnen nicht weniger als das zuteilen muss, aber auch nicht mehr. Forderungen dieser Elemente variierten von Eiern zu ganzen Kälbern, und wenn dieser Zustand anhält, deutet sich die Aussicht einer Lebensmittelknappheit in einem Gebiet an, in dem diese mit Sicherheit vermeidbar ist.
Aus mehr als einem Grund sollte daher ein bestimmtes Maß an Aufsicht in diesen kleinen Landgemeinden eingeführt werden.
Technical Sergeant Samson B. Knoll
* Übertragung des Berichts ins Deutsche und Kommentierung: © Dr. Norbert Nail (Marburg, Mai 2020); das Foto wurde mit Genehmigung des Bildarchivs Foto Marburg übernommen. Der englische Text befindet sich im schriftlichen Nachlass des in den Jahren 1945/46 in Marburg tätigen „Chief Interrogator for Military Government Information Control“ der amerikanischen Militärregierung, Samson B. Knoll (1912-2001); der Nachlass wird im Archiv der Philipps-Universität Marburg verwahrt, der obige Bericht kann im Bestand „UniA Marburg, 312/3/37, 79“ eingesehen werden. Zu Leben und Wirken des Berliner Abiturienten (Prinz-Heinrich-Gymnasium) und Studenten der damaligen Friedrich-Wilhelms-Universität, des US-Soldaten, Kriegskameraden der Schriftsteller Hans Habe und Stefan Heym, des späteren Universitätsprofessors Knoll vgl. beispielsweise diese Artikel:
https://www.uni-marburg.de/de/uniarchiv/inhalte-pdf/sk-2015-3-akademische-lebenswege.pdf
https://www.uni-marburg.de/de/uniarchiv/inhalte-pdf/interrogator_1.pdf
6 Die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht wurde erst am 7. Mai 1945 im Hauptquartier der Alliierten Expeditionsstreitkräfte in Reims unterzeichnet und trat am 8. Mai in Kraft.