Die heutzutage vom lokalen Stadtmarketing vereinnahmte Veranstaltung des „Mai-Einsingens“ auf dem Marburger Marktplatz geht auf eine Tradition zurück, die einst – horribile dictu – von Marburger Verbindungsstudenten begründet wurde.
Der Brauch, zur mitternächtlichen Stunde vom 30. April auf den 1. Mai den zum Volkslied gewordenen Cantus „Der Mai ist gekommen“ in Gemeinschaft zu singen (Text: Emanuel Geibel 1841, Vertonung: Justus Wilhelm Lyra 1842), hatte im Sommersemester 1911 schon den schottischen Studenten John Baillie (1886-1960), einen späteren Exponenten der protestantischen Weltkirche, beeindruckt. Aus erhaltenen Studienunterlagen geht hervor, dass er damals Lehrveranstaltungen der Professoren Wilhelm Herrmann (Theologie), Adolf Jülicher (Theologie) und Hermann Cohen (Philosophie) besucht hat. Zum Studentenleben an der Philippina findet man folgenden Hinweis: „Das Ankündigen des Sommers am letzten Tag des Aprils um Mitternacht. Marburg. Freudenfeuer. Wenn man auf einem Hügel steht, kann man über das weite Tal schauen und zusehen, wie ein halbes Dutzend Feuerzungen aus der Dunkelheit der anderen Seite plötzlich emporlodern. Alle Studenten stimmen ein in den großartigen Chor Der Mai ist gekommen.“ (Vgl. Studenten-Kurier 3/2017, S. 16-18).
In den 1960er Jahren prägten Studenten des Marburger Corps „Hasso-Nassovia“ in ihrer maigrünen Kneipcouleur das Bild des Mai-Einsingens auf dem Marktplatz. Diese marschierten im Zug und kerzentragend von ihrem Haus in der Lutherstraße über den Obermarkt zum Rathaus und nahmen Aufstellung. Inzwischen strömten auch Hunderte andere Studenten und Studentinnen in Erwartung des Gesangsereignisses aus den den Marktplatz umgebenden Kneipen. Mit dem letzten Flügelschlag des Rathausgockels Punkt 12 Uhr mitternachts stimmten die Hessen-Nassauer das Mailied an, und wer wollte, konnte mitsingen. Übrigens: Wegen einer gewissen Ähnlichkeit mit der kerzentragenden Werbefigur auf einer Abführschokolade bekamen die singenden Hessen-Nassauer den Spottnamen „Darmolmännchen“ verpasst.
(Als Leserbrief erschienen in der „Oberhessischen Presse“ vom 5. Mai 2023.)