Das aus einer mittelalterlichen Weinbauernsiedlung hervorgegangene Dorf Winzerla ist heute mit seinen zahlreichen Neubauten in der einstigen Feldflur ein Stadtteil der Universitätsstadt Jena. Der alte Dorfkern um die barocke Kirche erstreckt sich entlang einer Handvoll kleinerer Gassen. Hier gab es bis in die 1950er Jahre, also vor der „LPG-Zeit“ ab 1960/61, rund zwei Dutzend Bauerngehöfte. Auch mancher in anderen Berufszweigen tätige Bewohner war als Besitzer einer Wiese oder eines Ackers sowie als Halter von Hühnern, Kaninchen, einer Ziege oder eines Schweins mit landwirtschaftlicher Arbeit vertraut. Das ist insofern von Bedeutung, als nämlich der lokale Dialekt mit seiner Verwurzelung in der bäuerlichen Lebens- und Arbeitswelt von einem Großteil der ansässigen Bevölkerung gesprochen oder doch verstanden wurde. Was diesen Dialekt einst auszeichnete, wissen wir unter anderem aus Erhebungen, die Marburger Hochschulgermanisten in den Jahren 1879/80 und 1939/40 vorgenommen hatten. Im Rahmen ihres Programms zur Erforschung der Vielfalt der Mundarten oder Dialekte im ehemaligen Deutschen Reich verschickten sie in alle damaligen Schulorte Fragebögen, die von den Volksschullehrern in Zusammenarbeit mit ihren Schülern zu beantworten waren. Für den Schulort Burgau(-Winzerla) übernahm 1880 der in der Nähe von Magdeburg geborene Ferdinand Seemann die Aufgabe; dieser notierte damals auch, dass die Dorfbewohner – im Vergleich mit anderen Regionen Deutschlands – keine spezielle Tracht trugen. 1940 beantwortete der Lehrer Max Schneider aus Vieselbach bei Weimar zusammen mit seiner Schulklasse die Fragen. Der Auftrag bestand jeweils darin, die auf dem Fragebogen vorgegebenen, schriftsprachlich und (zumeist) überregional gültigen Wörter und Sätze in die ortsübliche (ilmthüringische) Mundart zu übersetzen. Die Erhebung von 1880 hatte primär zum Ziel, den Lautbestand der örtlichen Mundart zu erfassen, in der Erhebung von 1940 ging es um den lokalen Wortschatz. Die Fragebögen mit den Antworten sind im Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas in Marburg noch einsehbar; sie wurden von mir für diesen Beitrag ausgewertet und um eigene Beobachtungen ergänzt.
Als Besonderheit im Konsonantismus der damaligen Winzerlaer (und Burgauer) Mundart ist festzuhalten:
-nt-/-nd- > -ng-: Winger (Winter), ongen (unten), hinger (hinter), gefonge (gefunden), wengen (wenden).
-nd- > -nn-: de annern (die anderen), Kinnereien (Kindereien).
-ld-/-lt- > -l(l)-: dar ahle (der alte), ins kahle (ins kalte), balle (bald), uf’n Felle (auf dem Felde).
-pf/-pf- > -pp-: Topp (Topf), Töpper (Töpfer), Äppelbemchen (Apfelbäumchen).
-rst/-rst- > -rscht-: Dorscht (Durst), Bärschte (Bürste).
Im Vokalismus wurden Diphthonge zu Monophthongen umgewandelt:
au > o: roochen (rauchen), ech gloobe (ich glaube), dorchgeloofen (durchgelaufen), och (auch), Ogenblickchen (Augenblickchen); dazu Kürzungen wie drussen (draußen), uff (auf).
ei > e: Kleederschrank (Kleiderschrank), heeß (heiß), Beene (Beine), zwee (zwei), Fleesch (Fleisch), Fleescher (Fleischer), Seefe (Seife).
Gerundete Diphthonge wurden entrundet:
eu/äu > ei: Beile (Beule), Feier (Feuer), neie Heiser (neue Häuser), eich (euch), heite (heute), Meirchen (Mäuerchen), Leite (Leute), neigierig (neugierig), nein (neun).
Daneben beherrschten Vokalsenkungen die Aussprache:
i > e: ech (ich), emmer (immer), ben (bin), met (mit), Melch (Milch), mer (mir = wir), Tesch (Tisch), well (will), wedder (wieder).
e > a: umhar (umher), Watter (Wetter), met däm Pfare (mit dem Pferd), Pfaffer (Pfeffer), schlacht (schlecht), Schwaster (Schwester), basser (besser), Barge (Berge), racht (recht), sprache (ich spreche), gewasen (gewesen), bestallt (bestellt), vun Harzen (von Herzen), ha (niederd. he - er).
u > o: dorch (durch), Loft (Luft), Motter (Mutter), Dorscht (Durst). Hond (Hund), Gorke (Gurke), vun (von), gefonge (gefunden).
Andererseits gab es auch Vokalhebungen:
e > i: hingieh (hingehen), stieh (stehen), häme gieh (heim gehen), verstieht (versteht).
o > u: trucken (trocken), wullen (wollen), Kulle (Kohlen), Kuchleffel (Kochlöffel), huch (hoch), uhne (ohne), Ustern (Ostern), gruß (groß), Brud (Brot), su (so), schun (schon), geschmulzen (geschmolzen), uben (oben), gestuhlen (gestohlen), gebruchen (gebrochen), Wuchen (Wochen), kuchen (kochen).
a > o: ech hoh (ich habe), soh (sage), schloh (schlage), hot’r (habt ihr), Gorten (Garten), Obend (Abend), kom (kam).
und Vokalentrundungen:
es hiert (hört), Kreete (Kröte), schiene (schöne), Kuchleffel (Kochlöffel), biegeln (bügeln), Bärschte (Bürste), Äppelbemchen (Apfelbäumchen).
In der Erhebung von 1880 taucht regelmäßig das eher für das niederdeutsche Dialektgebiet typische Pronomen der 3. Person Singular ha statt er auf. Während der nachstehende Wortschatz im Winzerla der 1950er Jahre weitgehend noch Verbreitung fand, war insbesondere für den Bereich des Vokalismus eine Nivellierung in Richtung der Schriftsprache zu beobachten. Diphthonge wie au und ei wurden oft noch monophthongiert (roochen, Fleescher), eu entrundet (neigierig). Vokalsenkungen wie bei racht, Barge (recht, Berge) oder Konsonantenwechsel wie bei wengen (wenden) oder der Plural Kübe (Kühe) waren allenfalls noch bei der vor 1900 geborenen Generation üblich. Üblich war hingegen bei Namensnennung die Zweitstellung des Vornamens: (der) Büchner Harald, Stichs Peter.
Winzerlaer Wörter:
Ameise: Seechemse
ausschlagen (vom Pferd): schmeißen
Backtrog: Backmulle
barfuß: barwes, barbs’ch
belegte Brotschnitte: Bemme
Brunnen: Born
fegen: kehren
Fertigwerde: Fert’chwäre (Gestell zum Abkühlen / Lagern runder Blechkuchen)
Frühling: Frühjahr
Futterrübe: Runkel
Gans (m.): Gansert
Halt den Mund!: Halt die Gusche!
Hebamme: Kindfrau
Iltis: Ratz (n.)
Jauche: Sutte
Kalb (f.): Mutschenkalb
Kaninchen (zahm): Karneckel
Kartoffelpuffer: Dätscher
Katze (m.): Katzert
Kiefernzapfen (pl.): Kuhmutsche, Kienäppel
kneifen: knieben
Knospe: Knuppe
Kreisel (Spielzeug): Dorle (f.)
(Ziegen-)Lamm: Heppchen
(Geld an jem.) leihen: borgen
Libelle: Wasserjumfer
Löwenzahn: Bimbaum
(Gras mit der Sense) mähen: hauen
(Korn mit der Sense) mähen: schneiten
Marienkäfer: Mutschekiebchen
Nachharke: Rechen, (Verb) rechen
nachher: nachen
(rhetorische Versicherung) nicht wahr?: gelle?
Ohrwurm: Ohrenknieper
Pate, Patin: Gevatter, Gevatterin
Pflaume: Quetschge
pflügen: ackern
Pflugwende: Vorart (f.)
Werkzeug zum Durchstechen von Leder: Pfrieme (f.)
Sense mit Hammer schärfen: dengeln
Wochentag vor Sonntag: Sonnabend
Roggen: Korn
Rotkraut: Blaukraut
Sauger: Nuckel
Schaufel: Schippe
(auf dem Eis) schlittern: glennern
Schornsteinfeger: Essenkehrer
Schubkarren: Radeberle
Stangenkäse: (scherzhaft) Truthahn
Zugholz: Ortscheit (n.)
Viehbremse: Brähme
Ziege: Heppe
(Wagen) ziehen: zerren
weinen: heulen
der Weg zwischen den Häusern: der Weg durch die Häuser
Kirschen / Äpfel klauen: (von Kindern gebraucht) in die Kirschen / Äppel gehn
Kommandos an ein Pferdegespann: hüa! (los!), harweg! (nach links!), hotteweg! (nach rechts!), janeweg! (geradeaus!)
Kurze weiterführende Lektüre:
Karl Spangenberg: Kleines Thüringisches Wörterbuch. Hain Verlag Rudolstadt & Jena, 1994.
© Dr. Norbert Nail (Marburg, Februar 2024).